Flüchtlingspolitik und ein geschichtsvergessener Bürgermeister

21 Februar 2016

Flüchtlingspolitik und ein geschichtsvergessener Bürgermeister

Mit seiner Flüchtlingspolitik verrät Bürgermeister Olaf Scholz einmal mehr das politische Erbe der Hamburger Sozialdemokratie.

Im Kaiserreich hat sich die SPD wie keine andere Partei für das Prinzip der Beteiligung der gesamten Bevölkerung am politischen Willensbildungsprozess eingesetzt. Nach dem Ersten Weltkrieg war es die SPD, die in unserer Stadt erfolgreich für die Etablierung eines demokratischen Gemeinwesens und gegen das Wiedererstarken des Obrigkeitsstaates gekämpft hat.

Kampf für eine breite politische Teilhabe der Bevölkerung im Kaiserreich

Mit einer breiten Protestkampagne, die in den ersten politischen Generalstreik Deutschlands mündete, kämpfte die Hamburger SPD gegen das Klassenwahlrecht, das Anfang 1906 in der Hansestadt in Kraft trat. Diese rückwärtsgewandte Wahlrechtsänderung sollte bürgerliche Vorrechte schützen und die Bevölkerungsmehrheit, vornehmlich Arbeiter, dauerhaft von der Teilhabe an der Regierung fernhalten.

Die Wahlberechtigten wurden unter Berücksichtigung der Steuerleistung in Gruppen eingeteilt und ihre Stimmen auf dieser Grundlage unterschiedlich gewertet. Das führte dazu, dass noch 1913 selbstständige Kaufleute ein Drittel der Bürgerschaftsabgeordneten ausmachten, die Masse der Einwohner aber überhaupt nicht repräsentiert war und von der politischen Teilhabe ausgeschlossen blieb.

Otto Stolten, 1901 als erster Sozialdemokrat in die Bürgerschaft gewählt, kritisierte daher auch die Vertreter der alten Eliten, wenn sie sich von der Idee leiten ließen, „wir haben heute noch die Macht, und im Besitze dieser Macht dürfen wir tun, was wir wollen und was den Interessen des Besitzes entspricht“.

„Für oder gegen das Wahlgesetz“ war anschließend bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs das wichtigste Unterscheidungskriterium in der Hamburgischen Politik. Ziel der SPD blieb während dieser Jahre, die politische Gleichberechtigung für alle Bürger der Hansestadt zu erreichen.

Führende Rolle beim Aufbau des ersten demokratischen Gemeinwesens

Bereits zwei Tage bevor in Berlin am 9. November 1918 die Weimarer Republik ausgerufen wurde, hatte die Hamburger SPD in einer Resolution „weitgehendste Demokratie“ und die „Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts für beide Geschlechter vom vollendeten 20. Lebensjahre an“ gefordert.

Am 11. November übernahm der Arbeiter- und Soldatenrat die Macht in der Hansestadt, der Senat und Bürgerschaft zwar formal absetzte, die ehemaligen Senatoren aber aufforderte, bis zur Konstituierung einer neuen, „alle das Volk vertretenden Körperschaft“ weiterhin ihre Behörden zu leiten. Auf die Quasi-Allianz der revolutionären mit der alten Ordnung reagierte die SPD, indem sie mit Unterstützung der Gewerkschaften am 11. Januar 1919 zum Generalstreik aufrief und so den Arbeits- und Soldatenrat zur Zusage baldiger Bürgerschafswahlen zwang.

Am 16. März konnten erstmals in der Geschichte Hamburgs alle erwachsenen Einwohner ohne Unterschied des Geschlechts, der Herkunft, des Glaubens, des Besitzes, des Einkommens und der beruflichen Tätigkeit ihre stadtstaatliche Vertretung wählen. Die erste demokratische Verfassung der Hansestadt trat dann am 9. Januar 1921 in Kraft.

Die Hamburger Sozialdemokratie hat sich in dieser Zeit jedoch nicht nur um den Aufbau des demokratischen Gemeinwesens verdient gemacht, sondern auch um dessen Verteidigung. Als mit dem sogenannten Kapp-Putsch Mitte März 1920 versucht wurde, in Deutschland eine autoritäre Ordnung zu etablieren, waren es maßgeblich die SPD und die Gewerkschaften, die dies in Hamburg mit einem Generalstreik verhinderten.

Olaf Scholz negiert das demokratische Vermächtnis der Hamburger SPD

Dieses demokratische Vermächtnis spielt in der aktuellen Politik des Senats offenbar keine Rolle mehr. Im Gegenteil: Olaf Scholz negiert, dass die Fähigkeit und der Wille zur Partizipation inzwischen zur Identität der Menschen in unserem demokratischen Gemeinwesen gehört. Doch gelebte Partizipation gehört nicht zum Konzept des Bürgermeisters, wenn es um zukunftsfähige Lösungen bei der Unterbringung und der Integration von Flüchtlingen in unserer Stadt geht. Olaf Scholz setzt vielmehr auf eine autoritäre Politik von oben, die den Dialog verweigert und stattdessen allein darauf abzielt, die Interessen von Senat und Verwaltung durchzusetzen.

Dieser anmaßende Politikansatz ist nicht nur geschichtsvergessen, sondern er gefährdet das Vertrauen der Menschen in unserer Stadt in die Problemlösungsfähigkeit der demokratischen Diskussions- und Entscheidungsprozesse. Vor allem aber ignoriert Olaf Scholz auf geradezu atemberaubende Weise die politische Reife der Hamburger Bürgerinnen und Bürger.

Vgl. Hans Wilhelm Eckardt: Von der privilegierten Herrschaft zur parlamentarischen Demokratie. Die Auseinandersetzungen um das allgemeine und gleiche Wahlrecht in Hamburg, 2. überarbeitete und ergänzte Auflage, Hamburg 2002